Es gibt Menschen, die uns ein Leben lang begleiten, deren Poster in unseren Kinderzimmern hingen, deren Platten noch heute in unseren Schränken stehen, deren Bücher uns irgendwann tief beeindruckt haben; Menschen, die – ohne, dass wir in der Regel je Gelegenheit bekämen, sie persönlich kennenzulernen, dennoch eine – über die Jahrzehnte hinweg feste Größe auch unserer individuellen Lebensgeschichte sind.

 

Wo es für die einen Mick Jagger, Claudia Schiffer oder der Papst ist, ist über die Zeit hinweg für uns der Wagenbach Verlag und sein gleichnamiger Verleger ein solch fester Bezugspunkt, der helle und rote Stern am Buchhandelsfirmament.

 

Als Schüler sind der „Rote Kalender für Schüler und Lehrlinge“ und Erich Frieds Vietnam-Gedichte unverzichtbare Lebensbegleiter; in der Tasche des zerrissenen Armee-Jöppchens steckt Wolfgang Dreßens „Antiautoritäres Lager und Anarchismus“ für DM 5,50 (im Abo 1,- DM weniger) und „Bambule“ ist die treffende Parabel auf die Erziehungszustände der bleiernen Zeit.

 

Dann kommen – wie Klaus Wagenbach mit der ihm eigenen heiteren Selbstdistanz ausführt – die „Frauenbefreier, Abteilung männlich: Wollpullover mit Jesuslatschen; der bleichgesichtige Körnerkauer, der asketische Prophet (ehemals Klassensprecher, jetzt die Arbeiterklasse vertretend), der Vatermörder und die Schwanzabhackerin (letztere stark in der Theorie, schwach in der Praxis“, atmet Wagenbach auf!) – und wir lesen Peter Brückner und Tintenfisch und gehen ins Grips-Theater, während die Berliner Staatsanwaltschaft des Verlegers Verlagsräume aufräumt.

Wir gründen – gegen den FWW-Buchhandel und den sich ausbreitenden WC-Buchhandel – eine I-Buchhandlung (siehe Klaus Wagenbach: „Die Freiheit des Verlegers“, S. 266 ff.) – und der Verlag schickt uns seine Autoren zu Lesungen und mit denen gleich auch andere, ungebetene Gäste:

  • zu Peter Brückners Lesung von „Das Abseits als sicherer Ort“ kommt – obwohl nicht eingeladen – der Staatsschutz mit ins Jugendzentrum Papestr.,

  • mit Erich Fried kommt Anfang der 80er Jahre zusätzlich zum Staatsschutz die Polizei und die Staatsanwaltschaft ins Grillo-Theater. Zur Lesung von Liebesgedichten gibt es glücklicherweise aber keine Toten, sondern nur eine prächtig gefüllte Büchertischkasse.

In den Folgejahren bleibt der Verleger verrückt, weil weiterhin vernarrt in verlegerische Unabhängigkeit, in – auch – unverkäufliche oder zeitgenössische Autoren, die er zudem noch in feinstes rotes Leinen hüllt, fadengeheftet mit Prägung und aufgeklebtem farbigen Schild;

wir I-Buchhändler bleiben verrückt, weil vernarrt in buchhändlerische Unabhängigkeit, weil vernarrt in ebenjene Verlagsprodukte, die Fingerkribbeln und Herzklopfen schon beim Abtasten des roten Leinens hervorrufen, weil vernarrt in ebendiesen Verlag und seine Autoren, die der Verleger weiterhin zu uns schickt, damit wir mit denen vor unsere Leserinnen und Leser, treten: Martin Page, Frédéric Chaudière, Daniel Alarcon, Tanguy Viel. Auch wenn nur fünf Personen kommen: fünf Literaturinteressierte waren es vor 20 Jahren auch bei der Lesung einer damals unbekannten aufregenden Autorin, die gerade Rumänien verlassen hatte.

 

Dann kommt der Verleger selbst zu Besuch, rote Socken, roter Teppich, bringt in rotem Leinen seine Autobiografie mit und erzählt selbst von der „Freiheit des Verlegers“. Es war ein großartiger Abend, der – wie wir jetzt traurig erfahren – nicht wiederholt werden kann.