Oleg Jurjew: Von sonoren Schiffsirenen und pfäffischen Bimmelglöckchen
„Wenn man von Oleg Jurjew spricht, muß man vom Reichtum eines großen Sprachorchesters sprechen. Man muß vom Tuten und Blasen sprechen, von dem er viel Ahnung hat, man muß von sonoren Schiffsirenen sprechen über die Ostsee hinweg, von pfäffischen Bimmelglöckchen, die mittags erklingen, vom Zirpen eines Streichinstruments, das man so noch nicht gehört hat. Ist die Saite ein rostiger Draht aus dem Bestand eines abgewickelten Schiffskombinats? Und man muß sich den Dirigenten vorstellen, der alle diese Töne, Klangfarben einsetzt, der die Tutti machtvoll aufruft, es ist ein Brausen in der Luft wie Engelsgeschwader. Man muß sich den Dirigenten Oleg Jurjew als einen glücklichen Menschen vorstellen. Er steht – ja, genau wie ein Dirigent – mit dem Rücken zum Publikum, mit anderen Worten, er sieht uns Leser nicht. Oder tut er nur so, als würde er uns nicht bemerken, wie wir die ungeübten Ohren spitzen, damit uns keines seiner Tonmaterialien entgeht. Mit anderen Worten: seine Romane machen hellwach (…)
Als er 1991 Rußland verließ, zusammen mit seiner Frau Olga Martynova und seinem Sohn Daniel, hörte er auf, ein Dramatiker zu sein, obwohl seine Stücke auch in Deutschland aufgeführt wurden. War die Bühne, die sich ihm bot, zu klein, die Materialität des Theaters, Auftritte, Abtritte, Licht und Dekorationen ihm zu wenig phantasievoll? Stieß sich seine Phantasie an der vermeintlichen Allmacht von Regisseuren, die glauben, ein Stück nur in den Griff zu bekommen, wenn sie ihm ihre Einfälle aufzwingen? So ist es zu vermuten. Und seitdem jongliert er mit Sprachbrocken, mythischen Versatzstücken, kulturellen Sedimenten. Schachteln, in denen eine Erzählung verborgen ist, in der eine Schachtel vorkommt, in der wiederum eine andere Erzählung ist, und in einer dieser Erzählungen rattert eine Schiffsschraube, die wiederum eine andere Erzählung in Gang, was sage ich: in Fluß bringt, auf hohen Wellen tanzen läßt und eine große Woge hinterläßt. Alles ist groß, alles ist groß angelegt, Breitwanderzählungen mit riesigen Besetzungen, die für alle möglichen Überraschungen gut sind.“
Ursula Krechel: Laudatio auf Oleg Jurjew zum Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil der Stadt Heidelberg
Oleg Jurjew ist am Donnerstag dieser Woche im Alter von 58 Jahren gestorben.
2010 erhielt er den mit 15.000 Euro dotierten Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil der Stadt Heidelberg. Er lebte in Frankfurt am Main und war mit der Lyrikerin und Prosaautorin Olga Martynova verheiratet.
Im November 2014 sprach Oleg Jurjew in unserer Reihe LITERATUR:LITERATUR! im Museum Folkwang mit Norbert Wehr über Reed Gracev, der für Joseph Brodsky der „beste rußländische Literat unserer Zeit“ war, sprach über den Übersetzer Peter Urban, über Jelena Schwarz und die inoffizielle Literatur im Leningrad der 1960er- 1980er Jahre, las eigene Gedichte und sang russische Seemanns-, Kriminellen- und Gulaglieder, wobei er sich auf einer 85 Jahre alten, 7saitigen Gitarre begleitete.
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